Unendlichkeit, Bezeichnung für Phänomene,
deren Ende nicht existiert oder nicht gedacht werden kann. Nicht zu verwechseln
mit ►Unbegrenztheit.
Es war wohl zuerst die Vorstellung von ungeheueren
Weiten oder äonenhaften Zeiträumen, die die Menschen auf die Idee des
Unendlichen brachte. Der italienische Dichter Giacomo Leopardi schrieb:
Lieb war mir immer dieser stille Hügel
Und diese Hecke, die dem Blick verbirgt
den Zirkel des fernen Horizonts.
Doch wenn ich sitz' und schaue, male ich mir aus
Ungeheure Räume jenseits von allem,
Orte so übermenschlichen Schweigens
Und so furchtbarer Stille,
dass mir das Herz gefriert.
Und wenn den Wind
Ich durch die Blätter rauschen höre,
Vergleich' ich seine Stimme
jenem unendlichen Schweigen:
Vor mir steht die Ewigkeit,
Alle Zeiten, vergangen und tot,
gegen den Lärm der Lebenden.
Im Unendlichen versinkt mein Geist:
Und Untergang ist süß auf diesem Meere.
(G. Leopardi, l'Infinito, 1819)
Anfangs wurden sehr lange Zeitabschnitte,
sehr große Entfernungen oder sehr große Mengen als unendlich angesehen.
Das griechische Wort Äon steht für ein Zeitalter, in der Mehrzahl 'Äonen'
aber zugleich für die Ewigkeit. Das Unendliche war noch nicht das Gegenteil
des Endlichen, sondern einfach ein vergrößertes oder verlängertes Endliches
oder die Summe aus vielen Endlichen.
Ab 600 v. Chr. befassten sich die
griechischen Vorsokratiker etwas systematischer mit der Unendlichkeit.
Die griechische Unendlichkeit
Anaximander (610
- 546 v.Chr.) führte den Begriff ►Apeiron als
einen unendlichen und unendlich fein teilbaren Urstoff ein, aus dem alles
Endliche hervorgeht: "Ursprung aller Dinge ist das Unendliche."
► Pythagoras (570
- 497 v.Chr.) fand die Beziehung zwischen
den Seitenlängen eines rechtwinklichen Dreiecks (a2 +
b2 = c2) und entdeckte die ►irrationalen
Zahlen als Lösung
dieser Gleichung.
Parmenides (515 - 450
v.Chr.) erklärte auch die Gesamtheit der Dinge für unendlich. Das Universum
hat weder eine räumliche Grenze, denn wogegen sollte es sich abgrenzen?
- noch einen zeitlichen Anfang, denn woraus soll es entstanden sein? - noch
ein Ende, denn wohin soll es vergehen? In diesem Sinne ist die Welt räumlich
und zeitlich unendlich.
Anaxagoras (500
- 428 v.Chr.) beschrieb als Erster das Unendliche als nur etwas stets
Erweiterbares: "Denn es gibt beim Kleinen ja kein Kleinstes,
sondern es existiert stets ein noch Kleineres. Und ebenso gibt es beim
Großen kein Größtes."
Zenon von
Elea (490 - 430 v. Chr.) zeigte mit seinen Paradoxa von der Illusionshaftigkeit
der Bewegung (►Zenons Paradox),
dass unendliches Summieren unendlich kleiner Teile zu Widersprüchen mit
der intuitiven Anschauung führt.
Demokrit (460
- 370 v.Chr.) schloss aus Zenons Paradoxa, es sei unmöglich, Körper unendlich
oft zu teilen. Es müsse irgendwo eine Grenze geben. Die kleinsten Bestandteile
aller Dinge sind die unteilbaren ►Atome.
Platon (428 - 348
v.Chr.) definierte die Ideen als Träger des Endlichen, die der ungeordneten
und unendlichen Welt ihre Form geben. Vollkommenheit kann nur im Endlichen
liegen.
► Eudoxus (408 - 435 v.Chr.) verwendete erstmals unendlich kleine
Zahlen in einer Vorwegnahme der ►Infinitesimalrechnung zur Bestimmung
von Längen, Flächen und Volumina.
Aristoteles (384 - 322
v.Chr.) löste Zenons Paradox, indem er Anaxagoras' Vorstellung aufgriff
und die Unendlichkeit als nirgends real verwirklicht erklärte. Sie existiert
nur als potentielle Unendlichkeit, nämlich als eine Möglichkeit, über
die Grenze jedes Endlichen hinauszugehen. Doch auch die größten vorstellbaren
Zahlen und Zeiträume sind immer noch endlich. Es gibt also keine aktuale
Unendlichkeit in fertiger, abgeschlossener Form. Es gibt in der Natur
nichts Unendliches, weder im Raum noch in der Zeit. "Überhaupt
existiert das Unendliche nur in dem Sinne, dass immer ein anderes und
wieder ein Anderes genommen wird, das eben Genommene aber immer ein Endliches,
jedoch immer ein Verschiedenes und wieder ein Verschiedenes ist."
► Archimedes (287 - 212 v.Chr.) erfand zur Berechnung der ►Sandzahl eine
Methode zur Darstellung unbegrenzt hoher Zahlen und führte zur Berechnung
der Zahl ►Pi Grenzwertbetrachtungen ein.
Aristoteles' Unterscheidung zwischen aktualer
und potentieller Unendlichkeit wird in der Geschichte und auch in der
Mathematik des Unendlichen fortan eine große Rolle spielen. Nach Aristoteles
gab es jedoch zunächst eine lange Denkpause. Die Philosophen traten ab,
die Theologen betraten die Bühne des Unendlichen und brachten eine andere
Werteskala mit sich. Während die griechischen Philosophen das Unendliche
im Gegensatz zum Endlichen als unvollkommen und ungeordnet betrachtet
hatten, war für die Theologen gerade das Endliche unvollkommen. Vollkommenheit
lag nur in der unendlichen Natur Gottes.
Die theologische Unendlichkeit
Augustinus (354 - 430)
sprach dem Menschen die Fähigkeit ab, das Unendliche von sich aus zu
erkennen. Nur ►Gott ist aufgrund seiner eigenen unendlichen Natur
dazu in der Lage, und nur im Streben nach Gott kann der Mensch dem
Unendlichen nahe kommen und Erfüllung finden: "Unruhig ist unser Herz, bis
es Ruhe findet in Dir."
Anselm von
Canterbury (1033 - 1109) versuchte den Glauben logisch zu begründen
und benutzte wie Augustinus einen Unendlichkeitsbegriff zur Definition
Gottes: "Etwas, worüber hinaus nichts Mächtigeres gedacht
werden kann."
Thomas von
Aquin (1225 - 1274) verweigerte wie Aristoteles den materiellen
Dingen jede aktuale Unendlichkeit und gestand ihnen lediglich das
potentiell Unendliche zu: "Die Existenz einer aktual unendlichen
Größe ist
unmöglich. Denn jede vorstellbare Menge von Dingen muss eine bestimmte
Menge sein. Und Mengen von Dingen sind bestimmt durch die Zahl von Dingen
in ihnen. Doch keine Zahl ist unendlich, denn Zahlen ergeben sich nur
durch das Zählen von Mengen". Einzig Gott ist aktual unendlich
und somit das einzig Vollkommene.
Nikolaus von Kues (1401 - 1464) brachte die Unendlichkeit der
Welt wieder ins Spiel. Da die Natur nach der göttlichen Vorstellung geformt
wurde, hat Gott auch seine eigene Unendlichkeit auf diese übertragen.
Das Universum besitzt somit zumindest eine Kopie von Unendlichkeit. Im
Unendlichen sind alle Gegensätze vereint, da dort Maximum und Minimum
zusammenfallen und ein Kreis von einer Geraden nicht mehr unterscheidbar
ist.
Die aufgeklärte Unendlichkeit
Giordano Bruno (1548 - 1600) beschrieb
das Universum als nicht potentiell, sondern aktual unendlich und ewig,
wobei die Erde in diesem riesigen Raum nur einen unbedeutenden Platz
einnimmt. Alles andere wäre der Schöpfungskraft eines unendlich mächtigen
Gottes nicht würdig. "Denn ich fordere ja nicht den unendlichen
Raum [...] aus Hochachtung vor der bloßen Ausdehnung oder körperlichen
Masse, sondern wegen der Existenzwürdigkeit der in ihm möglichen Naturen
und körperlichen Arten, weil eben die unendliche Erhabenheit sich unvergleichlich
besser in unzähligen Individuen darstellen muss, als in einer begrenzten
Anzahl. Daher muss notwendig dem unzugänglichen göttlichen Angesicht
auch ein unendliches Spiegelbild entsprechen, in welchem sich unzählige
Welten als unzählige Glieder befinden." Für diese Behauptung
bezahlte Bruno einen hohen Preis.
Blaise Pascal (1632 - 1662) sah den Menschen verloren zwischen
dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen in der Natur: "Was
ist schließlich der Mensch inmitten des Kosmos? Ein Nichts im Vergleich
zum Unendlichen, ein All im Vergleich zum Nichts: eine Mitte zwischen
Nichts und All. Unendlich davon entfernt, die Extreme geistig
einzuholen, sind ihm das Endziel der Dinge wie ihr Ursprung unbezwinglich
verborgen in einem undurchdringlichen Geheimnis; er ist gleichermaßen
unfähig, das Nichts, aus dem er gezogen ist, zu erkennen wie das Unendliche,
das ihn verschlingt."
Baruch de Spinoza (1632 - 1677) griff wieder auf die alte Idee
des Apeiron zurück, indem er Gott
durch eine allumfassende Substanz als Grundlage aller Erscheinungen
ersetzte.
Die Substanz ist unendlich in Raum und Zeit und somit Ursache nicht
nur aller Dinge, sondern auch ihrer selbst.
René Descartes (1596 - 1650) glaubte nicht an das aktual Unendliche,
aber an das Endlose: "Wir werden Alles, bei dessen Betrachtung
man kein Ende finden kann, zwar nicht als unendlich behaupten, aber
als endlos ansehen. So kann man sich keinen Raum so groß vorstellen, dass
eine Vergrößerung desselben unmöglich wäre, und man wird deshalb die
Größe der möglichen Dinge als eine endlose bezeichnen. Ebenso wird man
die Größe für ohne Ende teilbar halten, weil kein Körper in so viel Teile
geteilt werden kann, dass diese Teile nicht immer noch weiter teilbar
wären. Ebenso wird man die Zahl der Sterne für nicht beschränkt annehmen,
weil man sich keine so große Zahl derselben vorstellen kann, dass Gott
nicht noch mehr hätte erschaffen können."
John Locke (1632
- 1704) gestand das Unendliche zwar dem leeren Raume zu, der dem Hinzufügen
beliebiger Längen keine Schranken setzt; nicht aber dem Weltall, das
als eine Gesamtheit materieller Körper nur endliche Ausdehnung hat
und im leeren Raume ruht. In Raum, Zeit, und in den Zahlen ist jede
Unendlichkeit
eine rein potentielle. "Es dürfte sich schwerlich jemand finden,
der unsinnig genug wäre zu behaupten, er besitze die positive Idee
einer aktual unendlichen Zahl."
Gottfried Leibniz (1646 - 1716) sah die Welt aus unendlich vielen
unteilbaren ►Monaden bestehend, negierte
jedoch die Vorstellung eines unendlichen Ganzen. "Es giebt
allerdings eine Unendlichkeit von Dingen, d. h. stets mehr, als man
bezeichnen kann. Aber es giebt
keine unendliche Zahl von Linien, noch irgendeine andere unendliche
Menge, wenn man sie für wirkliche Ganze nimmt, wie leicht zu zeigen
ist. [.] Das wahre Unendliche ist, streng genommen, nur im Absoluten,
welches jeder Zusammensetzung vorausgeht und nicht durch Zusammenfügen
von Theilen gebildet ist."
Trotz seines Lippenbekenntnisses gegen die
aktuale Unendlichkeit war Leibniz einer der Hauptbeteiligten an der mathematischen
Revolution des 17. Jahrhundert. Während bis dahin die Mathematik nur
versucht hatte, die Natur zu beschreiben, begann sie sich nun mit abstrakten
Objekten zu befassen, die keine Entsprechung in der Natur hatten - etwa
mit den Infinitesimalzahlen, unendlich kleinen Zahlen. Paradoxerweise
konnte diese abstrakte Mathematik das Verhalten der Natur besser beschreiben
als je zuvor. Isaac Newton benutzte in seiner ►Fluxionsrechnung unendliche
Unterteilungen von mathematischen Kurven, ohne sich einen Deut um Aristoteles
oder um die Einwände der zeitgenössischen Philosophen und Theologen zu
scheren. Der Lohn seiner Arbeit waren die ►Naturgesetze der
Schwerkraft und der Bewegung fester Körper sowie ein präzises theoretisches
Modell des Sonnensystems.
Das Schisma der Unendlichkeit
Seitdem muss das Unendliche sich ganz unterschiedliche
Behandlungen in Naturwissenschaft, Mathematik und Philosophie gefallen
lassen. Die Mathematiker und Naturwissenschaftler begannen zuerst das
unendlich Kleine und später auch das unendlich Große mehr und mehr in
ihre Berechnungen einzubeziehen. Konsequenterweise folgte die Auffassung
vom Unendlichen in der Mathematik ab dem 17. Jahrhundert einer eigenen
Entwicklung. Die Philosophen und Theologen hingegen theoretisierten weiter
vor sich hin:
George Berkeley (1685 - 1753)
hielt nur Wahrnehmungen und damit nur Endliches für existent. Einzig
Wahrnehmungen sind reale Manifestationen von Gottes Geist, außer dem
nichts ist. Die Welt gibt es somit nur, solange wir sie sehen. Den Sinnen
nicht zugängliche und vom Menschen unabhängige Begriffe wie "Unendlichkeit" haben
für ihn in der Philosophie nichts verloren: "Soll nicht der Gegenstand
der Geometrie das Verhältnis wohlbestimmter Strecken sein? Worin
liegt dann der Nutzen, über unendlich große oder unendlich kleine Zahlen
nachzudenken? [...] Ist es nicht unnütz, ja absurd anzunehmen, eine endliche
Strecke sei unendlich unterteilbar?"
Immanuel Kant (1724 - 1804)
dagegen unterschied zwischen der Wahrnehmung der Dinge und den Dingen
an sich, die wir nicht erkennen können. "Ohne Sinnlichkeit würde
uns kein Gegenstand gegeben werden." Raum und Zeit sind bloße
Anschauungen, die nötig sind, um die Erscheinungen der Welt zu ordnen.
Konsequenterweise ist auch für ihn das Unendliche nicht objektiv existent,
da man es nicht wahrnehmen kann. Das Unendliche ist vielmehr nur "ein
Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung,
nach welchem keine empirische Grenze für absolute Grenze gelten muss,
also ein Prinzipium der Vernunft".
Georg Hegel (1770 - 1831)
sah das Endliche und das Unendliche als dialektische Einheit. Das Unendliche
verwirklicht sich nur im Endlichen. Das Unendliche ist jedoch keineswegs
nur die Negation des Endlichen; die aktuale "wahre" Unendlichkeit
ist vielmehr die Negation der potentiellen "schlechten" Unendlichkeit.
Potentielle Unendlichkeit ist wie "eine gerade Linie, an deren
beiden Grenzen nur das Unendliche ist". Dagegen ist die wahre
Unendlichkeit der wie ein Kreis, "die sich erreicht habende
Linie, die geschlossen und ganz gegenwärtig ist, ohne Anfangspunkt
und Ende."
Ludwig
Feuerbach (1804 - 1872)
sah den Menschen im Zwiespalt zwischen Jenseits und Diesseits, zwischen
der Unendlichkeit Gottes und der Endlichkeit seines eigenen Wesens.
Das Bewusstsein des Unendlichen ist jedoch nichts anderes als das Bewusstsein
von der Unendlichkeit des eigenen Bewusstseins. Die Erkenntnis Gottes
ist die Selbsterkenntnis des Menschen und führt letztendlich zur Befreiung
des Menschen von Gott. Diese Befreiung macht "die Menschen
aus Theologen zu Anthropologen, aus Theophilen zu Philanthropen, aus
Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits." Denn
erst der ►Atheismus,
die Erkenntnis des Ursprungs des Unendlichen im eigenen Bewusstsein, "gibt
der Natur und Menschheit die Bedeutung, die Würde wieder, die ihr der
Theismus genommen."
Die mathematische Unendlichkeit
Bis zum 17. Jahrhundert unterschied sich
der Unendlichkeitsbegriff der Mathematik nicht wesentlich von dem der
Philosophie. Auch hier wurde das Unendliche zunächst nur in der Annäherung,
d.h. als nur potentiell Unendliches akzeptiert. Der Ausdruck

nähert sich dem Unendlichen,
wenn sich die Werte a und b annähern. Sobald jedoch a und b gleich
sind, wird der Ausdruck sinnlos. Eine Teilung durch 0 ist in der Mathematik
keine erlaubte Operation.
Die erste Aufweichung dieser Distanzierung
vom aktual Unendlichen erfolgte im 17. Jahrhundert durch Newtons und Leibniz' ►Infinitesimalrechnung,
der Mathematik der unendlich kleinen Zahlen. Doch wenngleich die Infinitesimalrechnung
offensichtlich funktionierte und das Verhalten der Natur - etwa die Planetenbewegung
- perfekt beschrieb, stand sie nach Meinung vieler Zeitgenossen auf wackligen
Füßen.
S.F.
Lacroix (1765 - 1843), der Verfasser des Standardwerks über Infinitesimalrechnung
im 18. Jahrhundert, lehnte die Unendlichkeit bereits im Vorwort ab: " Das
Unendliche, als das letzte Glied der Großheit betrachtet, ist selbst
nur eine Grenze, welche die Größen nie erreichen können; der Begriff,
den man damit verknüpfen muss, ist nur ein negativer Begriff; denn
jede Größe, die ich mir wirklich vorstelle und die ich in meinem Kalkül
gebrauche, ist eben deswegen nicht unendlich."
Carl Friedrich
Gauß (1777 - 1855) nörgelte noch 1831: " . protestiere ich
zuvörderst gegen den Gebrauch einer unendlichen Größe als einer Vollendeten,
welcher in der Mathematik niemals erlaubt ist. Das Unendliche ist nur
eine Sprachweise, indem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse
Verhältnisse so nahe kommen als man will." Dies hinderte Gauß jedoch
nicht am Entwickeln grundlegender Methoden der Differentialgeometrie,
die auf der ►Infinitesimalrechnung basiert und mit unendlich kleinen
Zahlen operiert.
Bernard Bolzano (1781 - 1841)
war der erste Mathematiker, der sich der Tabuisierung des Unendlichen
systematisch widersetzte. Die Welt, meinte er, ist voller aktualer Unendlichkeiten,
so dass es keinen Sinn macht, diese aus der Mathematik zu verbannen.
Die Menge der Punkte einer Linie ist unendlich. Jeder Zeitraum enthält
unendlich viele Augenblicke. Die Zahl der Nachkommastellen der Wurzel
aus zwei ist unendlich. Und der menschliche Geist ist laut Bolzano durchaus
in der Lage, sich eine Unendlichkeit als ein Ganzes vorzustellen, denn
dazu braucht es keineswegs einer Vorstellung aller Bestandteile der Unendlichkeit
im Einzelnen. Es gelang Bolzano, eine eigene Mathematik zu entwickeln,
in der sich widerspruchsfrei mit unendlichen Größen rechnen lässt. Er
bewies, dass die Anzahl der Punkte eines Bereichs auf dem ►Zahlenstrahl nicht
von dessen Länge abhängt. Seine Ergebnisse wurden posthum unter dem Titel Paradoxien
des Unendlichen veröffentlicht.
Karl Weierstraß (1815 - 1897)
stellte die ►Infinitesimalrechnung 150 Jahre nach ihrer Einführung
auf ein logisch korrektes Fundament, indem er die Verwendung unendlich
kleiner Zahlen durch Grenzwertbetrachtungen begründete.
► Bernhard Riemann (1826
- 1866) bewies als
erster, dass eine endliche und eine unendliche Fläche gleich viele
Punkte haben, indem er die Punkte einer Kugeloberfläche auf die Ebene
projizierte.
Richard Dedekind (1831 - 1916)
entwickelte die heute noch gültige mathematische Definition einer unendlichen
Menge. Eine Menge heißt nach Dedekind unendlich, wenn sie die gleiche
Anzahl an Elementen besitzt wie eine echte Teilmenge ihrer selbst. Umgekehrt
ist eine Menge endlich, wenn sie mehr Elemente besitzt als jede ihrer
echten Teilmengen.
Georg Cantor (1845
- 1918) schließlich führte das aktual Unendliche aus seinem Schattenreich
wieder in die Mathematik ein. Gegen den Widerstand konservativer Mathematiker
entwickelte er im Alleingang die ►Mengenlehre und
die Mathematik ►transfiniter,
d.h. aktual unendlicher Zahlen. Nicht umsonst bezieht sich im Mathematikteil
dieses Lexikons fast jeder zweite Begriff direkt oder indirekt auf
Cantor. Der Mathematiker ►David Hilbert fasste
seine Leistungen so zusammen: "Aus dem Paradies, das Cantor
uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können."
► Ernst Zermelo (1871
- 1953) formulierte zusammen mit Abraham
Fraenkel ein
konsistentes Axiomsystem für Cantors ►Mengenlehre. Es besteht aus neun Axiomen* und bildet die Grundlage für fast alle Zweige der Mathematik, ähnlich wie ►Euklids Axiomensystem für die Geometrie.
► Bertrand Russel (1872 - 1970) entdeckte das ►Russelsche
Paradox und bewies dadurch indirekt, dass es keine größtmögliche
Unendlichkeit gibt.
► Luitzen Brouwer (1881 - 1966) bewies die Unmöglichkeit eines
geometrischen Beweises für die Gleichmächtigkeit der Punkte von Flächen
verschiedener Dimension. Der arithmetische Beweis (s. ►Dimension) dagegen
ist einfach und war schon lange vorher von Cantor gefunden worden.
► Kurt Gödel (1906 - 1978) entdeckte 1931 die Unvollständigkeit
aller axiomatischen Theorien und 1938 die Nichtwiderlegbarkeit der
►Kontinuumshypothese im
Rahmen von Zermelo's Axiomsystem der Mengenlehre.
► Paul Cohen (1934 - 2007) bewies 1963, dass auch das Gegenteil
der Kontinuumshypothese in der Mengenlehre nicht widerlegbar ist. Damit
gilt die Kontinuumshypothese als einer der nichtentscheidbaren Sätze
im Rahmen der axiomatischen Mathematik.
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