Cantor-Staub, eine ►fraktale Menge von ►Reellen Zahlen mit paradoxen Eigenschaften.

Hier ein Rezept zum Produzieren von Cantor-Staub. Nehmen Sie einen reellen Zahlenbereich, etwa den Bereich von 0 bis 1. Nun schneiden Sie 80% aller Zahlen aus der Mitte dieses Bereichs heraus, also alle Zahlen zwischen 0,1 und 0,9. Von den beiden verbliebenen Zehnteln am Anfang und Ende des Bereichs schneiden Sie nun wieder jeweils die mittleren 80% heraus. Es müssen jetzt also alle Zahlen von 0,01 bis 0,09 und von 0,91 bis 0,99 dran glauben. Übrig sind danach die vier Bereiche 0 bis 0,01, 0,09 bis 0,10, 0,90 bis 0,91 und 0,99 bis 1. Aus jedem entfernen Sie wieder 80%, und so weiter.

Diese 80%-Schnitte wiederholen Sie unendlich oft. Wenn Sie damit fertig sind, haben Sie Cantor-Staub erzeugt. Dieser ist die Menge der nach unendlich vielen Schnitten übrig gebliebenen Zahlen:

0. Schnitt: 0-----------------------------------------------1
1. Schnitt: 0----------0,1                              0,9----------1
2. Schnitt:   0---0,01     0,09---0,1                                       0,9---0,91     0,99---1
3. Schnitt: 0-0,001  0,009-0,01  0,09-0,091  0,099-0,1    0,9-0,901  0,909-0,91  0,99-0,991  0,999-1
4. Schnitt: ..................................................................................................................

Nun zählen Sie die verbliebenen Zahlen. Zu Ihrer Verblüffung sind genauso viele Zahlen übrig geblieben, wie der komplette Bereich ursprünglich enthielt. Und das, nachdem Sie unendlich oft fast alle Zahlen entfernt haben. Wie ist das möglich?

Der frustrierte Schnitter

Der erste Schnitt entfernt sämtliche Zahlen, deren erste Nachkommastelle mit einer anderen Ziffer als 0 oder 9 beginnt. Der zweite Schnitt entfernt vom Rest wieder sämtliche Zahlen, deren zweite Nachkommastelle mit einer anderen Ziffer als 0 oder 9 beginnt. So geht es immer weiter. Nach unendlich vielen Schritten bleiben also von unserem Intervall genau diejenigen Zahlen übrig, die nur aus den Ziffern 0 und 9 bestehen - wie etwa 0,9090909 oder 0,00900999 und so weiter. Das gilt auch für die letzte Zahl unseres Bereichs, die 1, denn diese lässt sich schreiben als 0,99999999.*

Eine Zahl mit nur zwei Ziffern ist jedoch nichts anderes als eine Binärzahl (s. Zahlensysteme). Um das zu verdeutlichen, ersetzen wir einfach bei allen Zahlen die 9 durch 1, was offensichtlich an der Gesamtmenge der Zahlen nichts ändert. Dadurch bekommen wir jetzt alle Binärzahlen zwischen 0 und 1, also 0,1010101 oder 0,00100111 und so weiter. Da es für den Zahlenwert egal ist, ob wir ihn binär oder dezimal darstellen, haben wir damit wieder genau den ursprünglichen Zahlenbereich zwischen 0 und 1 geschaffen.

In Wirklichkeit ist dieses Paradox natürlich nichts anderes als die in diesem Wörterbuch oft anzutreffende Erkenntnis, dass die Teilmenge einer unendlichen Menge genauso groß sein kann wie die Menge selbst (s. ►Abzählbarkeit). Kleine Quizfrage: Was passiert, wenn wir wieder unendlich oft 90% der Zahlen herausschneiden, aber diesmal nicht aus der Mitte, sondern vom Ende des Zahlenbereichs?**


* Beweis. 9 = 9,999. - 0,999. = (10-1) ∙ 0,999. =  9 ∙ 0,999. = 9 ∙ 1, also muss 0,9999. = 1 sein. Dementsprechend gilt auch 0,1 = 0,09999. usw.

** Der erste Schnitt entfernt alle Zahlen, die größer sind als 0,1. Der zweite entfernt alle, die größer sind als 0,01. Der dritte alle, die größer sind als 0,001. Bei jedem Schnitt verschiebt sich die Ziffer 1 um eine Stelle weiter nach rechts, bis uns nach unendlich vielen Schnitten nur die 0 übrig bleibt. Obwohl wir genau gleich viele Zahlen entfernt haben wie vorher, ist das Ergebnis ein völlig anderes.

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